Pedigree einer Tragödie
Seit der unbeschreiblichen Tragödie, dem Attentat auf nordamerikanisches Leben und Stolz, habe ich andere Augen für meine Mitmenschen. Wer von ihnen ist mein Bruder, meine Schwester? Wer ist mir gut gesinnt, wer nicht?
In den Augen der schwarzen Bauxerln, die mich um ein paar Münzen anflehen, glaube ich ab und zu eine eigenartige Mißgunst aufleuchten zu sehen. Sie sind aber brav und fügen sich ihrem miserablen Schicksal. Straßenkinder eben, Favelados. Die Elendsviertel sind voll mit diesem mehr oder weniger dunkelhäutigen Pack.
Unlängst las ich in einer europäischen Zeitung, die moderne Gentechnik habe längst den Beweis erbracht, dass es aufgrund der globalen genetischen Gemeinsamkeiten keine unterschiedlichen menschlichen "Rassen" gebe.
Nur etwa 20 Prozent aller Mitteleuropäer, so hieß es, fühlten sich durch die Gegenwart von Menschen anderer "Rassen" gestört. Weitere sieben bis elf Prozent konnten oder wollten die Frage nicht eindeutig beantworten. Immerhin nahezu 70 Prozent fühlen sich angeblich in Gegenwart von "Fremden" nicht unwohl. Damit liegen die Bewohner von Pirmasens, Pappenheim und Pöllau ziemlich exakt im EU-Mittel. Extrem ablehnend gegenüber "Ausländern" - laut Angaben der Presse - zeigen sich Belgier und Griechen, besonders freundlich die Spanier.
Wenn es schon keine unterschiedlichen Rassen gibt, wie ist es uns mehr oder weniger fremdenfeinlichen Europäern möglich, "Zugereiste" von "Einheimischen" zu unterscheiden? Wenn wir alle gleich sind, wo nehmen wir die "Unterschiede" her? Welche - rein äußerlichen - Merkmale und Beziehungspunkte dienen uns dünkelhaften und genophoben Bewohnern der Heilen Welt, um Fremde, aus armen Ländern zugereiste Menschen gezielt auszugrenzen?
Bei uns in Brasilien ist das kein Problem. Wir sehen auf einen Blick wer an unserem Bühnenbild, an unserer Gesellschaft teilnimmt, wer nicht. Die dunkelhäutige Masse auf den Straßen übersehen wir einfach, kennen keine Namen.
Abgesehen einiger evangelischen Sekten, leben in Brasilien alle Religionen friedlich nebeneinander und die verschiedensten Schattierungen und Nuancen der Hautfarbe vereiteln einen beträchtlichen Teil rassistischen Dünkels.
Sowohl europäische als auch brasilianische Freunde und Verwandten leben in den USA, um die ich mir jetzt Sorgen mache, während ich am Strand sitze, mit dem Strohhalm Kokoswasser aus einer unreifen Nuß sauge und über die letzten Geschehnisse nachdenke. Hinter mir schwatzen Argentinier über das Attentat. Der Kokosnußverkäufer scheint keine Fernsehnachrichten zu verfolgen.
Kabul, Bagdad und der mittlere Orient gehört nicht zu meinem Szenario. Dort habe ich keine Verwandten. Bekannte und Freunde auch keine! Allahu akbar.
© Reinhard Lackinger