Literaturtipps & Rezensionen
Josef Gruber: Ultras Italien. Passione e Mentalità.Um zu begreifen, dass es sich bei dem vorliegenden Bildband um eine Ahnengalerie handelt, reicht die Lektüre des Spielberichts AC Milan gegen AC Florenz aus dem Jahr 2004. Die Begeisterung darüber, wie die Fossa dei Leoni und die Brigate Rossonere "gut 9.000 Milanisti in die Gesänge einbinden" und von "gut 7.000 Gäste(n)...für ein schönes Gesamtbild zu Beginn mit Dutzenden Doppelhaltern, Fahnen, Rauch und Bengalen" sorgten, verursacht im Jahr 2012 höchstens Nostalgie. Beim letzten Spiel der Fiorentina im San Siro wären vermutlich 700 Gästefans schon sehr enthusiastisch geschätzt.
Blickfang Ultrà legt mit "Ultras Italien" eine Auswahl aus ungefähr 1.200 Fotos des Österreichers Josef Gruber aus den Jahren 1998-2006 vor, die heute sämtlichst wie eine Dokumentation aus der "guten alten Zeit" darstellen. Gruber reiste unzählige Male über den Stiefel und dokumentierte seine Reisen in Wort und Bild unter anderem für sein Fanzine "Unterwegs". Erstmals erhalten seine Bilder nun den verdienten Rahmen in einem Bildband, der auf 316 Seiten die Leidenschaft einer ganzen Epoche einfängt.
"Tausende Kilometer, Dutzende Stadien und unzählige Stunden in den stickigen Zugabteilen. Mit dem Fotoapparat bewaffnet bereiste Josef Gruber zwischen 1996 und 2007 den italienischen Stiefel. Von Norden nach Süden, von Süden nach Norden. Immer wieder aufs Neue. Angetrieben vom Calcio, dem Spektakel auf den Rängen und der Folklore der Ultras. So füllte sich über die Jahre ein schier unendliches Sammelsurium an Bildern aus den bunten Fankurven Italiens. Jeder, der sich für die Kultur der Ultras auf dem Apennin interessiert, wird mit diesem Bildband auf seine Kosten kommen: kann in den Seiten versinken, von Geschichten und Momenten aus der guten, alten Zeit träumen und sich ein Stück Ultras, so wie es heute leider nicht mehr existiert, in die Gegenwart holen."
Selbstverständlich gibt es Kurvenfotos auch kostenlos im Internet. Dort erregen allerdings nur die spektakulärsten Auftritte Aufmerksamkeit, nicht die Details. Wie wenn Gruber den angespannten Gesichtsausdruck kurz vor dem Torjubel einfängt oder den gerade eskalierenden Fan, der auf die Plexiglasbegrenzung geklettert ist, um gegnerischen Fans (oder dem Schiedsrichter?) seine Meinung kundzutun. Lachende Gesichter, Frauen im Block, der Ausstieg aus den Bussen am Auswärtsziel, der Gesichtsausdruck der behelmten Celere, der Weg über das Schotterbett der Gleise, der Schal, der gerade ins Gesicht gezogen wird.
Unmöglich, sich nicht überwältigen zu lassen von der zum Bild geronnenen Passion. Wirklich schön war aber die Idee, eine kurze Zusammenfassung einzelner Spiele zu bringen und verschiedene, besonders auch kleinere, Gruppen vorzustellen und sie in Interviews zu ihrem Selbstverständnis zu führen. So hängen die Bilder nicht "in der Luft", wie so oft im Internet, sondern erlauben einen weiteren Einblick in die Dynamiken der Ultrà-Bewegung, bevor sich das Phänomen auch in deutschen Kurven ausbreitete. So gelangen auch Ultràs der Internet-Generation über die Sprachbarriere und können teils atemberaubende Bilder mit Informationen aus erster Hand auch gleich einordnen.
Dabei geht es alles in allem wohltuend "riot-frei" zu, es ist selbstverständlich unmöglich, nicht auch die seinerzeit noch häufigen Auseinandersetzungen einzufangen, aber diese Schilderungen schieben sich keineswegs sensationsheißerisch in den Vordergrund. Man erhält ein wunderschönes Gefühl von bunten, lauten und chaotischen Kurven, blickt in begeisterte und verzweifelte Gesichter. Man sieht Banner von Gruppen, die es schon lange nicht mehr gibt und erhält eine Ahnung davon, wie viel Begeisterung seit 2007 ausgerottet wurde. Heute sehen italienische Stadionkurven meist grauer und trister aus.
Für die paar Euro muss man sich ein solches Buch natürlich kaufen, keine Frage. Um zu wissen, woher die Fankultur stammt, auf die man sich beruft, um ein wenig Archäologie des Supports zu betreiben. Bei den Lesungen zu "Tifare Contro" bekam ich oft zu hören, dass dies ja nun kein Buch wäre, dass man seiner Mutter in die Hand geben könnte um der zu erklären, weshalb man seine Freizeit und sein Geld darauf verschwendet, einer Fußballmannschaft hinterherzureisen. Mit dem vorliegenden Bildband könnte man es zumindest einmal versuchen. Kaufen könnt ihr den Bildband "Ultras Italien" hier.